Bericht von Hartmut Forster, Holzheimer Sportgemeinschaft. Vom Vohandu Marathon 2022 in Estland 

 

Voohupng
Teilnehmerfeld insgesamt 1.066 Boote.

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Hartmut Forster wurde 11ter und in seiner Klasse "KI Men" mit 255 gestarteten Booten erreichte er Platz 4.

 

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die  Strecke                                                                                   

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Vor dem Start 

"Als diese Veranstaltung im Veranstaltungskalender des Deutschen Kanu Verbandes angezeigt wurde war ich sofort Feuer und Flamme teilzunehmen. Zumal mich seit Jahren der Gedanke nicht loslässt dem Baltikum endlich mal einen Besuch abzustatten. Zusammen mit Gleichgesinnten einhundert Kilometer durch die Weite Estlands zu paddeln, dabei unberührte Ur-Europäische Flusslandschaften zu durchdringen und dies als ehemaliger Rennsportler am Ende noch in einer guten Zeit abzuschließen hatte mich genau richtig berührt.

 

Im ersten Schritt habe ich also versucht meinen Enthusiasmus zu teilen um Mitstreiter zu gewinnen. Alle fanden den Ansatz toll, wollten sich aber lieber doch nicht auf das Abenteuer einlassen.
Auch kostenfreie Urlaubsangebote mit der Möglichkeit sich als Wasserträger nützlich machen zu können wurden lieber nicht angenommen. Zu dieser Zeit habe ich die Lage noch nicht richtig einschätzen können. Heute ist mir klar, dass viele sich liebend gern auf Weg in skandinavische Länder machen aber kaum jemand kennt jemanden, der sich bereits ins dunkle Baltikum vorgetraut hat. Außerdem ist die geopolitische Lage so angespannt ... - naja, halt "German Angst".

Nur bei meinem lieben Freund Georg, ein ähnlich begeisterter Paddler und Freund des improvisierten Reisens fiel der Gedanke, eine solche Tour zu unternehmen sofort auf fruchtbaren Boden. Er sagte sofort zu. Ohne ihn hätte ich mir die Teilnahme abschminken können.

Das passierte alles im Januar´22. Die folgenden Monate waren kalt, stürmisch und die Tage zum Trainieren äußerst kurz. So mancher Wasserkilometer war eine echte Tortour. Dann stand endlich Ostern vor der Tür und einer der größten Marathons der Welt - immer am 3. Samstag im April - ist in greifbare Nähe gerückt.

Neben körperlichen Vorbereitungen haben wir natürlich auch unsere Boote gepimpt.

Dafür wurden Checklisten abgearbeitet, um auf der Strecke keine Überraschungen erleben zu müssen.Welches Steuer kann man für die zu erwartende Schneeschmelze nehmen? Sind die Steuerseile ok?
Was für eine Pumpe baue ich ein? Kann ich eine Halbspritzdecke für den schnelleren Ausstieg nehmen?Was zieht man bei kaltem Nordostwid an? Sind Handschuhe erforderlich?
Wie kann ich mich auf dem Weg ernähren, ohne Zuviel mitschleppen zu müssen?  Oft genug habe ich mich auf meinen bisherigen Marathons über Kleinigkeiten geärgert, die man vorab gut hätte abstellen können.
All das sollte diesmal nicht passieren! Daher lieber eine äußerst penible Vorbereitung.

Osterdienstag ging es dann endlich los. Wir machten uns mit dem PKW auf ins ferne Baltikum. Immerhin stand uns eine Anreise von 2.500 Kilometern bevor.

Wir entschieden uns, vom Rheinland aus nach Kiel zu fahren, dort die Nachfähre nach Klaipeda zu nehmen.

Klaipeda, das ehemalige Memel im heutigen Litauen. Von den Deutschen Ostseehäfen aus ins Baltikum gibt es zahlreiche, recht preiswerte Fährverbindungen.

Die Fähre bringt einen über Nacht und am Folgetag sehr entspannt zum Ziel.
Der anschließende Landweg führte uns dann über absolut malerische Landschaften, in Regionen des ehemaligen Deutschen Ordens,nach Lettland über Riga hinauf nach Estland. 

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Georg hatte sich um fantastische Hotelübernachtungen gekümmert und auch eine perfekte Bleibe direkt am See in Värö (dt. Werrosee) reserviert.
Im Laufe der Reise zum nordöstlichen Ende Europas haben wir alle Vegetationsstufen nochmal rückwärts durchlebt. Zuletzt, in Väro, öffneten gerade die ersten Frühblüher ihre Blüten, alle Bäume befinden sich dort Mitte April noch im Winterschlaf. Als wir eintrafen war es sonnig und mit tagsüber 18°C für den eingefleischten Esten bereits sommerlich warm.

Am Freitag, dem Tag vor dem Rennen, haben wir unsere letzten Vorbereitungen mit einer Streckenbegutachtung des 100 km Marathons abgeschlossen.
Von der Organisation erhielten wir letzte Instruktionen und unsere Startnummern mit RFID Erkennungen. So werden unsere Zwischenzeiten bereits an den Umtragestationen erfasst.

Die sich stetig ändernde Wettervorhersage von Wetter.com wurde nun doch konkret. Für den Start am Samstagmorgen werden jetzt 5°C sowie starke Bewölkung vorhergesagt.
Über den Tag sollte es sonniger werden, aber mögliche Schauer bei maximal 14°C waren noch immer einzukalkulieren. Leichter 2-3 km/h Gegenwind aus Nordost.
Jetzt konnte man endlich entscheiden was anzuziehen ist und die Wahl fiel auf die Halbspritzdecke, eine leichte Regen-Windjacke sowie kurze Radlerhandschuhe.

Samstag, ab 5 Uhr konnte man bereits erste Bewegungen am See erkennen. Gegen kurz vor Sieben begaben Georg und ich uns dann in voller Montur zur Startlinie um von dort mit 1.065 anderen Booten auf den Startschuss zu warten. Was für ein Anblick! So viele Boote hab ich noch nie an einem Marathonstart gesehen.
Die überall zu spürende Anspannung führte gleich mal zu einem Frühstart von ca. 2 Minuten. Bei dieser Anzahl von Startern hatte die Organisation dies wohl eingeplant und daher auf einen Neustart verzichtet. Naiv wie ich bin hatte ich mich weiter hinten aufgehalten um genau um 7 an der Startlinie zu sein. So fand mich um 6:58 in den Wellen größerer Verdränger wieder deren Umschiffung sich als äußerst stressig herausstellte.

Zur Vermeidung eines riesigen Chaos starten die SUP`s und Rafter am Ausgang des Värö Sees während Kajaks und Canadier eine Runde im See absolvieren.
Die Runde von ca.5km entzerrt das Teilnehmerfeld und ermöglicht eine relativ reibungslose Einfahrt in den Vohandu Fluß. Am Start sausten Drohnen über unsere Köpfe hinweg.
Deren beeindruckende Aufnahmen des Starterfeldes findet man heute auf Youtube. man fragt sich, ob ein solcher Start auch hier in Deutschland durchführbar wäre – wohl kaum. 

Der Vohandu ist im Oberlauf flach und recht langsam und damit ohne jedwede Schwierigkeit zu bepaddeln. Ich hatte schnell die Boote meiner Geschwindigkeit gefunden und fühlte mich für den Tag der Tage recht gut gewappnet. Es lief prima an, die Wellen derjenigen Bootsteams, die sich augenscheinlich zu früh auspowern, lassen sich prima absurfen.
Irgendwie war alles beängstigend reibungslos. Pumpe funktioniert, GPS, Puls Tracker laufen und ich komme an den Schlauch der mit meinem Getränkebeutel im Rumpf meines Bootes verbunden ist ohne mich verrenken zu müssen. Die Streckenkarte ist perfekt auf der Spritzdecke positioniert und mit der GPS Ortung kann ich immer genau sehen wo ich mich gerade befinde. Im Bootsrumpf, zwischen meinen Beinen wartet eine isotonische Mischung aus Hünerfond und Cola ohne Kohlensäure auf mich - ein Sinnes- als auch ein Leistungsereignis der ganz besonderen Art. Mir hilft´s prima!

Bei ca. Kilometer 9 dann plötzlich die absolute Katastrophe!

Aufgrund der doch ungewohnten Handschuhe gegen Blasenbildung hatte ich für einen kurzen Moment kein gutes Paddelgefühl, komme hinten rechts drucklos raus, setze vorn links "irgendwie schief" ein und beim nächsten Schlag links habe ich beim Ziehen einfach keinen Gegendruck mehr auf meinem Wing. Letzte Versuche zur Stabilisierung schlagen fehl und ich kippe langsam nach links ins Wasser. Gekentert! Komischerweise spüre ich keine Kälte im 4 Grad kalten Wasser, kann mich auch sofort auf dem Grund in ca. 1,70 m Tiefe orientieren und versuche mich so schnell wie möglich zu sammeln. Boote um mich herum bieten mir Hilfe an aber in einem Rennen gegen die Zeit ist mir klar, dass keiner wirklich die Muße aufbringen würde eine Rettungsaktion zu unterstützen.
Die nahe, verschilfte Uferzone war schnell erreicht und das meiste Wasser auch wieder aus dem Boot. Nun musste ich noch den Wiedereinstieg aus ca. 60 cm tiefem Uferschlick schaffen ohne wieder reinzufallen. Trotz hohem Adrenalinspiegel, den ich gerade habe gelang dies außerordentlich gut - jetzt noch die Spritzdecke drüber, Karte geradesetzen und weiter! Es war überstanden. Was für ein Albtraum.
In der nächsten Phase des Rennens hab ich die braune Brühe, ein Gemisch von Uferschlick aus meinen Socken und dem restlichen Bilgewasser mit der Pumpe aus dem Boot befördert. Trotz Abkühlung und mentaler Unterbrechung kam ich da irgendwie gestärkt heraus und wollte es einfach nicht auf mir sitzen lassen nun denjenigen Booten hinterherzufahren, die in meiner Pace unterwegs sind. So machte ich Dampf und überholte viele Teilnehmer augenzwinkernd ein zweites Mal "short break for a bath". Es wurde lächelnd kommentiert.

Erste Portage in Paidra bei KM 31. 

Am Vortag hatten Georg und ich uns zusammen Portagen und andere schwierige Abschnitte angeschaut. Jetzt nun, wie auch an vielen vorherigen Stellen auch hier hunderte von anfeuernden Zuschauern und helfenden Begleitpersonen. Was für ein fantastisches Happening! 
Bevor ich aussteigen konnte hatte ich schon helfende Hände am Bug meines Bootes, die es gern umtragen wollten. Leider wurde das Boot beim Anheben quergelegt - ich saß aber noch drin! Den Anblick, mich im Wasser zu sehen hat meine "guten Helfer" so verschreckt, dass ich mein Boot anschließend selbst umtragen mußte. Wie auch vorher geplant.

 

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Rapids - Stromschnellen.

Bis hierher hatten wir eine Strömung von etwa 3-4 km/h. Das ändert sich ab jetzt schlagartig. Die Wassertiefe nimmt ab und es kommen riesige Felsbrocken zum Vorschein, die sich gegen die Sonne durch dahinterliegende Schaumkronen nur schwer ausmachen lassen. Ab jetzt gilt dem Fahrweg absoluter Vorrang! Geschwindigkeit und ein konstanter Marathonschlag sind jetzt sekundär. Der Fluss mäandriert an steilen Uferböschungen vorbei, Baumstämme liegen quer und ich bin jetzt heilfroh mit einem äußerst manövrierfähigen Boot auf dieser Strecke unterwegs zu sein. Hoffentlich erwische ich den richtigen Weg durch die sechs nun auf mich zukommenden Stromschnellen!

Kurz vor mir, in etwa 200m Entfernung paddelt der Belgier Marian Sarbu vom Kcc Mechelen mit dem ich vor meinem „kurzen Bad“ bereits gleich aufgelegen hatte.
Er machte den Eindruck sich auszukennen und ich entschied mich bis 30 m auf ihn aufzufahren um zu sehen wie und wo er die Stromschnellen passiert.
Ab und zu krachte er böse auf Steine, die mir ohne ihn, gegen die Sonne auch nicht aufgefallen wären. Bei meinem Abstand blieb Zeit schnell eine Alternativroute zu nehmen.
Auch die Geschwindigkeit, die er fuhr gab mir Gelegenheit meinen Puls wieder unter "Normal" zu bringen. Erholung für die Muskeln - Stress für den Kopf.
Nach der sechsten Stromschnelle hab ich mich bei ihm noch für seine gute Linienführung bedankt und dabei erfahren, dass er auch zum ersten Mal dabei ist.
Im Laufe der Zeit hat sich dann der Abstand immer weiter vergrößert so dass ich ihn aus den Augen verloren habe. Die Stromschnellen lagen nun hinter mir, die Fließgeschwindigkeit nahm immer weiter ab und der Fluß verlor sich in seinen Mäandern. Viele, viele scharfe Kurven bis Kilometer 80 ohne Strömung.
In diesem Abschnitt fühlte ich mich plötzlich einsam, obgleich ich mich in einem Rennen mit über 1.000 Booten befand. Durch den schlechten Start und die Portagen hatte ich den Überblick verloren wer vor und wer hinter mir fährt, an welcher Position ich mich befinde. Unterwegs überhole ich noch ein Leichtgewicht, der zu Beginn wohl recht schnell unterwegs war, dem aber nun "die Körner" auszugehen scheinen. Jetzt sieht man wie wichtig es ist die gesamte Strecke zu betrachten. 70 Kilometer, oder 6 Stunden, können gut laufen – dann sind da aber immer noch die 30 noch abzuleistenden Kilometer bis ins Ziel. Eine gute Renneinteilung muß man mit seinem Körper jederzeit neu vereinbaren.

Rapina - die letzte von insgesamt 4 Portagen.
Vor Rapnia wird der Vohandu aufgestaut und man paddelt durch einen mit Schilfinseln durchsetzen See. Die Navigation erfolgt nach Mustern letzter, erkennbarer Strömung.
Einmal hat es mich dann doch in einen wunderschönen Schilfweg gelockt, der sich nach kurzer Zeit aber als eine Sackgasse herausstellte.

Sehr ärgerlich! Außer Wenden und den Weg wieder zurückpaddeln hilft hier nichts.
Endlich kommt am Ende des gerade durchpaddelten Sees die letzte Portage in Sicht. Das bedeutet, es sind an hier nur noch 10 Kilometer bis zum Zieleinlauf! Hunderte Menschen stehen an der Portage und feuerten mich an. Ich fühle mich endlich wieder zurück im Rennen. Mein leckeres Getränk war beinahe aufgebraucht was mich zu der Entscheidung bewog etwas nachzutanken. Also Boot kurz ablegen, eine Wasserflasche von den Betreuern annehmen und damit den Cola-Hühnerfond im Schlauchbeutel verdünnen. 
Beim Durchlaufen dieser letzten Portage wurde mir der Luxus zuteil, dass mir das Boot bis zur Einstiegsstelle getragen wurde. Neu motiviert, mit einem SB-Riegel Mund machte ich mich auf die letzten 10 Kilometer.
Die Marathonstrecke endet kurz vor der Mündung des Vohandu in einen See nahe der Russischen Grenze. Hier oben, auf dem letzten Stück, wehte mir jetzt noch der eiskalte Nordost genau entgegen. Die Bedingungen der letzten Kilometer erwiesen sich somit nochmal als echte Qual, die ich aber durch die gute Vorbereitung auf dem Rhein gut wegstecken konnte. Nicht auszudenken wie Wind, Kälte und Wellen dieses Abschnittes den Canadiern des Rennens mental zusetzen wird.  

Dann, das Ziel endlich in Sichtweite! Mit dem Anblick von Zieleinlauf und der dort grölenden Menschenmenge erfährt man ein solches Glücksgefühl dass alle Qualen vergessen sind.

Im Ziel erwartet einen die unglaubliche Freundlichkeit der Esten so dass man meinen könnte gerade vom Mond zurückgekommen zu sein.
Die 8 Stunden 31 Minuten, die ich in diesen Marathon eingetaucht bin fühlen sich heute an wie ein schöner Traum.

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Georg Plum nach 100 Kilometer im Ziel 

 


Das Aufwachen erfolgte dann nach der Ehrung in einem riesengroßen Kirmeszelt in dem eine ebenso große Sauna mit 5 Öfen untergebracht war.
Georg fuhr etwas später auch ins Ziel. Ihm ging es, wie vielen Teilnehmern, um das Ankommen bei Tageslicht. Letzte Teilnehmer trudelten Sonntagmorgen gegen 4 Uhr ein.

Ein großes Lob gilt den Organisatoren und beteiligten Helfern! Eine unglaubliche und darüber hinaus perfekte Organisation. Diese Veranstaltung ist zwar weit weg aber jedem Paddelenthusiasten sehr zu empfehlen.

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Übrigens - für die Rückreise haben Georg und ich uns für den Landweg über das ehemalige Ostpreußen entschieden.
Es sollten noch einige Seen in den Masuren oder auch in Ostpommern abgepaddelt werden.“


Hartmut.